Freeganisches Allgemeinwissen



Von Fee Anabelle Riebeling

Jakob in der Tonne
Als Jakob in den Müll stieg, ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Acht Jahre ist es her, dass er zum ersten Mal den Deckel des Müllcontainers auf dem Hinterhof eines Supermarktes nach hinten klappte, um kurz darauf ganz in der Tonne zu verschwinden. Seitdem sieht der heute 25-jährige Basler Supermärkte und andere Geschäfte nur noch selten von innen. Fast alles, was er zum Leben benötigt, findet er nach Ladenschluss in deren Abfalltonnen: Lebensmittel, Genussgüter und sogar Kleidung. An Auswahl mangelt es ihm nicht.

Zielstrebig lenkt Jakob sein «Long John», ein langgezogenes Velo mit Ablagefläche zwischen Lenker und Vorderachse, über den leeren Parkplatz eines Elsässer Supermarktes, hin zu den Containern hinter dem Gebäude. Hier «kauft» er ein. Noch bevor er die Container erreicht hat, entdeckt er zwölf Liter Vollmilch: «Haltbar bis 22.9.08. Unglaublich, es ist August!» Der Riechtest bestätigt den einwandfreien Zustand. Der schlaksige Junge mit dem abgetragenen Béret und viel zu weiten Kleidern ist empört. Jakob nimmt nur den gerade geöffneten Liter für seine Mitbewohner mit, die restlichen lässt er stehen – für die nächsten, die ihre Nahrungsmittel hier holen. «Ich nehme nur das, was wir auch tatsächlich verwerten.» Es ergebe schliesslich keinen Sinn, wenn die Nahrungsmittel statt im Müll bei ihm zu Hause verrotteten.

Jakob ist kein Einzelfall. Weltweit setzen Leute wie er mit dieser unkonventionellen Art der Nahrungsmittelbeschaffung ein Zeichen gegen das Konsumverhalten der Gesellschaft. Wann und wo die Bewegung ihren Ursprung hatte, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass sie in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erregte. Amerikanische Medien meinten schon, einen neuen Trend, gar eine neue Trendsportart ausgemacht zu haben. Doch davon wollen Freeganer, wie Leute wie Jakob in der englischsprachigen Welt genannt werden, nichts wissen. Ihr Handeln ist politisch und dient nur einem Ziel, «dem Boykott des profit­orientierten Wirtschaftssystems, bei dem der Shareholder-Value mehr zählt als das Einhalten ethischer Grundsätze».

In der Schweiz sind die Freeganer je nach Region als Mülltaucher oder Trasher bekannt. Was sie tun, nennen sie «Containern» oder «récuperation», kurz «récupe». Während der deutsche Begriff Art und Ort der Beschaffung beschreibt, verweist der französische auf die Absicht. Der englische Ausdruck wiederum hat eine weitere Bedeutung. Er verbindet die Wörter «free» und «vegan».

Während Veganer aus ethischen Gründen auf den Verzehr tierischer Produkte verzichten, gehen Freeganer wie Jakob noch einen Schritt weiter: Sie handeln aus antikapitalistischen Motiven. Der Wunsch nach einem «kostenfreien, ethischen Leben» steht dabei über allem. Ihre Praktiken ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Freeganism ist eine Lebenseinstellung.

Wie viele Schweizer tatsächlich auf diese Art ihr Leben organisieren, ist unbekannt. Sicher ist: Die Zahl derer, die «containern», ist weitaus grösser als die derer, die tatsächlich freegan leben. Auch Jakob vermag nicht zu sagen, wie gross die Basler oder gar die gesamthelvetische Szene ist. «Ein landesweites Netzwerk gibt es nicht, wenn überhaupt, ist man in lokalen Gruppen organisiert.» Und auch der Hang zur «Nachtarbeit» mache eine genaue Einschätzung der Bewegung so schwierig. Freeganer agieren meist nach Einbruch der Dunkelheit, auf jeden Fall erst, nachdem die Geschäfte geschlossen haben. Sie wollen unerkannt ­bleiben, sich so vor den Anfeindungen Aussenstehender schützen.

Auch Jakob möchte nicht erkannt werden. Ihm sei es zwar egal, was andere von ihm dächten, aber spurlos gingen die Reaktionen auch an ihm nicht vorbei. «Wenn du sagst, was du tust, dann lächeln die einen mitleidig, andere sagen dir ins Gesicht, dass sie dich für asozial halten. In ihren Augen bist du weniger wert, weil du nicht mit dem Strom schwimmst. Das ist dann schon unangenehm.» Auf Verständnis hingegen trifft er oft bei älteren Menschen. «Gerade die, die den Krieg miterlebt haben, sind entsetzt, dass so viel Geniessbares im Abfall landet.»

Seine Stimme ertönt dumpf aus dem Inneren des Containers, seine Beine schauen heraus: «Die anderen waren schon hier», sagt der 25-Jährige. Die Ausbeute fällt heute eher mager aus. Die anderen, das sind Grossfamilien und sozial Schwache, die durch «Containern» ihr Budget entlasten – und andere Freeganer. «Man weiss nicht viel über­einander, aber man weiss voneinander.» Deshalb gebe es auch eine Art Ehrenkodex: «Hinterlasse alles ordentlich. Andere danken es dir.»

Nach und nach fördert Jakob Zucchetti, Tomaten, Chicorée, Gurken und Kopfsalat zutage. Die welken, leicht fauligen Blätter entsorgt er noch vor Ort. Ganz unten im Container findet er eine Packung Fertig-Crêpes – ein krönender Abschluss für seinen «Einkauf».

Schon zu Schulzeiten war Jakob «irgendwie anders». Er rebellierte gegen das System, indem er nicht mehr zum Unterricht ging, vieles erst hinterfragte und dann ablehnte. Nicht des Boykottierens wegen, sondern weil er «Probleme mit den Wertvorstellungen und dem Konsumdenken um mich herum» hatte. In einem Internat nahe dem Thunersee sollte er wieder zur Vernunft gebracht werden. Stattdessen traf er dort auf Gleichgesinnte und rückte näher an die linke Szene heran. Zurück in Basel, zog er in die Villa Rosenau, ein besetztes Haus am Stadtrand. «Ich war total fasziniert von der Art, wie die Leute dort miteinander leben. Die waren füreinander da und hatten nicht nur ihr eigenes Vorankommen im Sinn. Das hat mir imponiert.»

Seither gilt sein Interesse einzig einer «selbstbestimmten, alternativen und ethisch vertretbaren Lebensweise», sagt er. Und die zieht er konsequent durch. «Mit einer Ausnahme», sagt Jakob. «Wenn die Beiträge für die Krankenkasse fällig sind, dann arbeite ich – aber nur dann.» Sonst gilt für ihn: sich bloss nicht auf «irgendwelche fiktiven ­Sicherheiten wie Geld und Arbeit» verlassen. Lebensnotwendige Gebrauchsprodukte, die er nicht im Müll finde, stehle er, erzählt er ohne Skrupel. Schliesslich beklaue er nur die grossen Ketten, keine Quartierläden. Ausserdem beschränke er sich auf das Nötigste: Spülmittel, Shampoo, Zahnpasta und -bürsten. «Das ist alles, was ich brauche. Auf Deo und Parfum verzichte ich, das zählt nicht zu den menschlichen Grundbedürfnissen.»

Jakobs Mitbewohner freuen sich über die heutige Ausbeute. Gemeinsam werden die Einkäufe gewaschen, zubereitet und gegessen. Keiner der sieben Bewohner der Villa Rosenau arbeitet, und doch mangelt es ihnen an nichts. Weil sie keine Arbeit nachweisen können, gelten sie offiziell als bedürftig. Sie selbst sehen das anders und wollen nicht andere für sich sorgen lassen. Lieber ziehen sie auf eigene Faust los. Dank dem «Long John» kann auch der Einzelne mehrere Kisten allein transportieren.

Die Nähe zu Deutschland und Frankreich ermöglicht es ihnen, aus einem grossen Angebot von Müll zu schöpfen und zugleich einiges über das Konsumverhalten der Länder zu lernen. Die Ausbeute in der Schweiz falle grundsätzlich magerer aus als anderswo, «deswegen ‹containern› wir hier eigentlich so gut wir gar nicht mehr», sagt Jakob. Die anderen nicken zustimmend. In der Schweiz werden die Container erst zur Abholung auf die Strasse gestellt oder sind verschlossen.

Zudem landen durch das 1967 von der Migros eingeführte Deklarierungssystem, bei dem verderbliche Lebensmittel mit einem Verkaufs- und einem Verbrauchsstempel versehen werden, nur wenige Nahrungsmittel in den Containern. Denn das, was das Verkaufsdatum, nicht aber das Verbrauchsdatum überschritten hat, wird in der Schweiz von den Läden an gemeinnützige Einrichtungen wie «Tischlein deck dich» weitergegeben und kommt somit den rund 850 000 als bedürftig eingestuften Menschen zugute. Die Detaillisten berufen sich auf diese Zusammenarbeit und erklären übereinstimmend, dass deshalb nichts Essbares im Müll lande.

Auch in Deutschland kooperieren die Ladenketten mit den bundesweit tätigen «Tafeln». Trotzdem seien immer wieder grosse Mengen Nahrungsmittel im Abfall zu finden. Während hinter dem deutschen Supermarkt ein riesiger Container voll mit Obst und Gemüse anzutreffen sei, «stehen im Elsass vier bis fünf, die bis oben hin mit Früchten, Salaten, Gemüse und sogar Konserven gefüllt sind». Jakobs Heimweg führt über einen kleinen Pfad entlang der grünen Grenze. Probleme mit dem Zoll habe es noch nie gegeben.

Von juristischer Seite haben die Freeganer nichts zu befürchten. Die Rechtslage ist in allen drei Ländern gleich. Ob es sich um einen Straftatbestand handelt, hängt davon ab, ob die Supermärkte ihren Besitz am Müll bereits abgetreten haben. Sind die Container frei zugänglich und ist das Betreten des Areals nicht durch Schilder untersagt, kann davon ausgegangen werden, dass niemand etwas gegen das «Containern» einzuwenden hat.

Für Unsicherheit sorgte vor drei Jahren ein Fall aus Deutschland, in dem eine Studentin wegen «Diebstahls in besonders schwerem Fall» vor Gericht stand. Die junge Frau hatte zuerst über einen Zaun klettern müssen und sich so des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht. Das Verfahren war damals gegen Auflagen eingestellt worden. Jakob kümmert die genaue Rechtslage wenig. «Menschen, die Nahrung fortwerfen, statt sie zu konsumieren, sollten sich schämen. Und solange ich kein Werkzeug mitnehmen muss, wird mich nichts vom ‹Containern› abhalten.»

Jakobs Mutter, die zuerst noch hoffte, dass «alles nur eine Phase» sei, «containert» mittlerweile selbst seit knapp einem Jahr. Finanzielle Engpässe und die Überzeugungskraft ihres Sohnes bewegten sie dazu. Als der alleinerziehenden Mutter mit selbständigem Lieferservice die Auftraggeber wegblieben, wusste sie nicht mehr, wie sie für sich und die bei ihr lebenden Töchter den Kühlschrank füllen sollte. Der eigene Gemüsegarten warf nicht genug ab zum Überleben. Statt sich bedürftig zu melden, greift sie seitdem in die Tonne.

Geschämt habe sie sich nie, in die Abfälle anderer zu steigen, schliesslich war es für sie «eine Frage des Über­lebens». Darüber gesprochen hat sie dennoch nie. Ausser ihren Kindern weiss niemand von ihrer unkonventionellen Lebensmittelquelle. Heute ist ihre finanzielle Situation «um einiges besser», doch auf das «Containern» möchte sie nie mehr verzichten. «Wer einmal gesehen hat, was und vor allem wie viel weggeworfen wird, der kann damit nicht mehr aufhören.»

Auch Jakob will weiterleben wie bisher. «Ich bin absolut zufrieden», sagt er, während er einen tiefen Zug von seiner selbstgedrehten Zigarette inhaliert. Wo er die herhat? «Gratis, aus dem Coop.» Er lacht. Und bleibt dabei: Sein Boykott ist ausschliesslich politisch motiviert.

Personenname von der Redaktion geändert.

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